Der Sumpf

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3 min readJul 5, 2020

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Der Sumpf

Sexuelle Gewalt gegen Kinder darf uns nicht sprachlos machen!

Viele Jahre habe ich mich für Frauen in der Prostitution eingesetzt — privat und beruflich. Ich habe fast alles zu dem Thema gelesen, was es gab, habe mit Frauen in der Prostitution gesprochen und beruflich die Pressearbeit einer Organisation mitgestaltet, die sich für diese Frauen einsetzt. Je mehr ich mich in das Thema vertiefte, desto mehr wurde mir der Sumpf bewusst, der Abgrund, in den ich dort blickte, war mit Worten nicht mehr zu beschreiben. Was die Frauen uns erzählten, was ich in Recherchen über die Freier herausfand, war himmelschreiendes Unrecht. Wir hielten Vorträge, schrieben Artikel, fuhren bundesweite Kampagnen, bestürmten Politiker. Die Resonanz war beschämend gering. Meine Kolleginnen und ich fragten uns ständig, was noch passieren müsste, damit diese Frauen von Gesellschaft und Politik endlich gesehen werden und endlich wirksam gegen die Maschinerie der Sexindustrie vorgegangen wird. Meine damalige Chefin und Gründerin der Organisation sagte damals: „Wenn es Kinder wären. Wenn aufgedeckt würde, dass massenweise Kinder betroffen sind, dann würden sie nicht mehr wegschauen.“

Lügde, Münster, Bergisch Gladbach. 30.000 Hinweise zu Tätern, 3 Petabyte beschlagnahmtes Material, tausende Opfer. Das ist nur der Bereich, der momentan sichtbar ist, in nur einer Region unseres Landes — und es ist nicht so, dass die anderen Bundesländer diese Problematik nicht haben. Prostitution und Pornografie ist nicht dasselbe, denkst du? Nein, ist es nicht, aber es ist eng miteinander verbunden. Das eine floriert, weil es das andere gibt. Und wenn ein Vater seine Kinder seinen Freunden anbietet, damit diese an ihnen ihr Unwesen treiben können — was ist das anderes als Kinderprostitution?

Deutschland ist Weltmeister — nein, nicht im Fußball, sondern im Pornos gucken. Wir sind das Land, das sich am meisten Pornos anschaut. Auf der ganzen Welt. Weltweit werden mit Pornografie 12,6 Millionen Euro Umsatz gemacht — jeden Tag. Die Nachfrage ist riesig und sie wird bedient — auch in Bezug auf Kinder. Bei Pornografie mit Erwachsenen und Prostitution wird in unserem Land ständig darüber gestritten, ob diese nun freiwillig stattfindet oder nicht. Ich finde diese Diskussion völlig daneben und unverhältnismäßig. Aber spätestens bei Kinderpornografie und Kinderprostitution gibt es diese Frage nicht! In beiden Fällen halte ich nur eine begriffliche Definition für angemessen: sexuelle Gewalt gegen Kinder.

Studien haben gezeigt, dass Frauen, die in der Prostitution waren, schwer traumatisiert zurückbleiben. 66 Prozent dieser Frauen sind so traumatisiert wie Kriegs- oder Folteropfer. Diese Traumata nimmt Deutschland bewusst in Kauf. Wofür? Für unsere vermeintliche Freiheit (ein gesetzliches Verbot wäre ja eine Einschränkung der Freiheit). Wir nehmen es in Kauf, damit Männer sich mit Geld die Macht über diese Frauen kaufen können. Wir nehmen in Kauf, dass Menschen zur Ware und Sexualität zur Dienstleistung verkommt.

30.000 Täterhinweise, die nur einen winzigen Einblick geben in den Sumpf, der unfassbar viel größer ist. Was im Darknet tagtäglich verbreitet wird, zerstört nicht nur das Leben dieser kleinen Geschöpfe. Es ist ein unbeschreiblich brutalter Angriff auf ihr Wesen, ihre Seele, ihre Würde. Kein Mensch ist verloren, egal, welche schlimmen Erfahrungen er machen musste — ich bin davon überzeugt, dass es immer Hoffnung gibt. Aber diese Brutalität gegen die Schwächsten unserer Gesellschaft darf uns nicht kalt lassen. Sie darf uns auch nicht sprachlos machen. Wir allen müssen anfangen Worte und angemessene Taten dafür zu finden. Es fängt bei dir und bei mir an. Niemand ist so klein und unbedeutend, dass er nicht etwas verändern könnte. Es ist gar nicht lange her, da schaffte ein 16-jähriges, schmächtiges Mädchen aus Schweden die ganze Welt zu mobilisieren. Und hier geht es nicht um das Klima — es geht um Seelen und unsere Würde.

Debora Höly

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