Ich bin dann mal im Busch

Warum ich erst 10.000 Kilometer von Deutschland entfernt lebendig wurde

Make Shift Happen
Make Shift Happen.

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Bild: Brooke Cagle (unsplash)

Unsere Auswanderung von Deutschland nach Paraguay war gut vorbereitet. Auf mehreren Reisen hatten wir Freunde gewonnen, Haus und Auto gekauft und klare Vorstellungen von unserem neuen Leben entwickelt: Mehr Ruhe, schönes Wetter, mehr Zeit für Freunde und — wenn möglich — Schreiben und Fotografieren zum Beruf machen.

Vom Ruhrgebiet in den Dornbuschtrockenwald, von der Systemanalyse zum Leben in der Natur: Größer kann der Unterschied kaum sein. Insofern ist es nicht überraschend, dass jeder Tag in unserem neuen Leben eine Herausforderung war und — selbst nach zwölf Jahren — oftmals noch ist.

Vorhersehbar war, dass es kulturelle Unterschiede zu bewältigen gibt, dass die Sprache einem so manches Bein stellen wird, und auch, dass die erwünschte Verlangsamung des Lebensrhythmus’ so manches Mal die eigene Geduld auf die Probe stellt, wenn sie einem von anderen Menschen vorgelebt wird. Niemals hätte ich jedoch mit dem Ausmaß an Flexibilität gerechnet, das man mitbringen muss, wenn man in einem neuen Umfeld bestehen will. Und damit meine ich nicht, dass praktisch alle gewohnten Produkte im Supermarkt fehlen, sondern dass — egal, wie gut man vorbereitet ist — alles immer ganz anders kommt, als man denkt. Endgültig vorbei ist die Zeit der langfristigen Pläne, der Sicherheit und der Berechenbarkeit. In allen Lebensbereichen.

Alles ist möglich, aber nichts wie gedacht

Obwohl ich in Deutschland als Selbstständige gearbeitet hatte, lernte ich erst in Paraguay, wie nah berufliche Hochs und Tiefs beieinander liegen können. Egal, ob man selbst Rinder züchtet oder nicht, die Abhängigkeit des Landes von Agrarexporten betrifft jeden. So kann beispielsweise ein einzelnes an Maul- und Klauenseuche erkranktes Rind die Landeswirtschaft in eine tiefe Krise stürzen, an der niemand vorbeikommt. Es gibt keine Versicherung, die alles regelt. Oder gar, wie in Deutschland die allgegenwärtigen Versicherungsreklamen einen glauben machen, sogar jedes denkbare Unglück fernhält. Hier in Paraguay zählt nur die Eigenverantwortung. Und dazu gehören nicht nur ausreichende finanzielle Reserven, sondern auch die Flexibilität seine Pläne von einem Tag auf den anderen über den Haufen werfen zu können. Dafür kann man hier aber alles ausprobieren und alles erreichen. Es gibt keine Schranken. Berufliche Qualifikationen und Papiere? Unwichtig. Nur das Ergebnis zählt.

Eine bedeutende und unerwartete Folge des Auswanderns ist, dass das tief verankerte – und meist unbewusste — persönliche Wertesystem nicht mehr funktioniert. Das hat zur Konsequenz, dass man sich nicht auf seine Intuition verlassen kann und zwischenmenschliche Beziehungen oder Situationen falsch interpretiert. Zudem sendet man auch seinem Gegenüber falsche, nicht dekodierbare Signale. Beispielsweise ist eine klare Ablehnung einer Einladung oder eines Angebotes völlig undenkbar und eine Grobheit sondergleichen. Der Satz „Tut mir Leid, da habe ich wirklich keine Zeit“ kann ausreichen, um nie wieder eingeladen zu werden. Stattdessen gibt es einen schwer durchschaubaren Code von Zusagen oder eventuellen Zusagen, aus denen man die Wahrscheinlichkeit des Treffens interpretieren muss.

Auch deswegen will ich eine Lanze für die Flüchtlinge in Europa brechen. Wenn schon eine lang herbeigesehnte, gut geplante und sicher finanzierte Auswanderung, bei der man seine Freunde und Familie zwar traurig, aber in Sicherheit zurücklässt, einen vor solch große Herausforderungen stellt, wie mag es dann den Flüchtlingen gehen? Sie mussten unter den schlimmsten vorstellbaren Voraussetzungen diesen Schritt ins Ungewisse wagen und wären eigentlich viel lieber in ihrer Heimat geblieben. Meiner Meinung nach sollte man weniger nach dem zweifellos vorhandenen Integrationswillen der Ankommenden rufen, sondern stattdessen selbst Offenheit und Unterstützungswillen entgegenbringen. Wie sollen Menschen aus anderen Kulturen wissen, wie wir Deutschen ticken? Dass alles geregelt ist und in unserer Kultur Papiere wichtiger sind als die Individuen dahinter? Der Kontakt zu ihnen ist eine große Chance, über den Tellerrand hinauszusehen und zu lernen, wie man in anderen Ländern denkt. Das hilft nicht nur den Flüchtlingen, sondern bereichert auch das eigene Leben.

Ach ja und das mit dem ruhigen Leben? Das hat dann doch nicht geklappt. Inzwischen produzieren wir Naturdokumentationen, die im paraguayischen Fernsehen zu den meist gesehenen Programmen zählen und sind von der paraguayischen Regierung für unsere Arbeit im Umweltschutz ausgezeichnet worden. Niemals zuvor habe ich so viel gearbeitet wie hier. Der Unterschied: Es macht Spaß und ich weiß, wofür ich es tue. Das macht mich lebendig!

Sabine Vinke (54) wanderte vor zwölf Jahren gemeinsam mit Ehemann Thomas nach Paraguay aus. Sie fühlt sich voll und ganz angekommen, wird aber trotzdem immer wieder überrascht. Bereut hat sie den Schritt ins neue Leben nie.

Bonustrack

Dieser Artikel ist einer von vier Beiträgen zur Frage, was ein lebenswertes Leben ausmacht. Erschienen in der gedruckten SHIFT-Ausgabe Vol. 4.

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