Verprass’ endlich deine Kohle, liebe Oma

Ein Plädoyer für mehr Freigiebigkeit

Make Shift Happen
Make Shift Happen.

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Wie oft habe ich es schon gehört. Wie oft habe ich mich früher gefragt, was das bedeuten soll, und wie oft frage ich mich heute, woher derjenige das wissen will. Vielleicht bin ich ja die einzige, die darauf fast schon allergisch reagiert, aber wenn zu mir ältere Menschen (meistens in einem resignierten, leicht jammernden Tonfall) sagen „Das lohnt sich für mich nicht mehr…“, möchte ich sie am liebsten nehmen und zurück ins Leben schütteln.

Warum meinen Ältere, es würde sich nicht mehr lohnen, zum Beispiel eine neue Brille anzuschaffen? Gehen sie davon aus, dass ihr Leben endet, bevor der Optiker die Gläser eingesetzt hat? Oder wie lange muss man eine Brille tragen können, damit sie sich „noch lohnt“? Die Brille kann meiner Erfahrung nach übrigens durch so ziemlich jeden Gegenstand des täglichen Lebens ersetzt werden — an Einstellung und Haltung ändert das nichts.

Die Geiz-ist-geil-Mentalität ist für keine Generation gut, auch wenn die Werbung uns oft genug etwas Gegenteiliges suggeriert. Die Generation, von der ich hier spreche, kennt Geiz zudem noch als eine der sieben Todsünden; sie wissen, dass eine solche Herzenshaltung nichts Gutes hervorbringt. Dennoch kleben sie förmlich an ihren Ersparnissen. Das Wissen wird offenbar nicht angewendet. Oder handelt es sich dabei etwa nicht um das klassische Geiz-Syndrom?

Schauen wir uns doch mal an, wo die Wurzel des Übels sitzt. Also: Woher kommt dieses — nennen wir es positiv formuliert — sparsame Verhalten? Sind das immer noch die Folgen der Kriegs- und Nachkriegserfahrungen, die so viele scheinbar dazu zwingen, jeden Cent zusammenzuhalten? Nur nichts Unnötiges anschaffen, vielleicht brauche ich das Geld morgen für etwas Lebensnotwendiges. Gerade diese Generation sollte doch wissen, dass NICHTS, wirklich gar nichts, morgen sicher noch da ist. Wer Wirtschaftswunder und Wirtschafskrisen, Inflationen, Nullzinspolitik, Börsencrashs und die Auf- und Abwertungen unterschiedlichster „Wertanlagen“ miterlebt hat, sollte das doch verinnerlicht haben. Mir wurde beigebracht, dass aufgrund der Lebens- und vor allem Leidenserfahrungen mit dem Alter auch die Weisheit zunehmen würde. Inzwischen kommen mir da Zweifel.

Eine Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA) hat ergeben, dass sich „die Befragten […] mit Händen und Füßen dagegen [wehren], ihr angespartes Vermögen wieder auszugeben“, wie Heiko Thomas vom Rheingold-Institut in Köln schreibt. Das Institut hatte im Auftrag des DIA die Studie 2014 erstellt und dabei herausgefunden, dass selbst diejenigen, die Geld haben, dieses zusammenhalten und sparen, sparen, sparen. Da werden eher die Ausgaben weiter gekürzt als an die Altersvorsorge zu gehen.

Bloß nichts ausgeben

Die Studienergebnisse zeigen mir, dass hinter der Enthaltsamkeit mehr steckt: Das Vermögen wird auch im übertragenen Wortsinn als „Handeln-Können“, „Handlungs-Vermögen“ und „Verhandlungs-Macht“ gesehen, erklärt Thomas. Demnach stehe das Vermögen für die eigene Lebendigkeit und Kraft und soll nicht nur finanziell den Status quo erhalten. Als Gegengewicht zu den Bedrohungen des Alters verspricht das Vermögen vermeintliche Sicherheit — und im unaussprechlichen Fall der Fälle durch das Geld dem Tod womöglich noch einmal von der Schippe springen zu können. Ob die Angst vor dem Tod hier ein guter Ratgeber ist? Schließlich gibt es keine Garantie, dass man dann genau diese Krankheit mit einem Zuschuss aus dem Privatvermögen besser behandeln kann, als durch die Standardleistungen der Krankenversicherer. Oder — vielleicht noch schlimmer — das Geld reicht trotz lebenslanger Sparsamkeit nicht aus.

Die offensichtlich angsteinflößende Geldverschwendung beim „Entsparen“ — also dem Aufbrauchen der Altersvorsorge, führt dazu, dass das Vermögen — unabhängig von seiner Größe — nie vorsätzlich ausgegeben wird. Paradox, dafür wurde schließlich ein Leben lang brav etwas auf die Seite gelegt. Nun könnte ich natürlich laut jubeln und mich über die selbstgewählte Askese freuen, da ich doch zu den (potenziellen) Erben gehöre. Doch mir kommt dieses Verhalten spanisch vor. Oder schwäbisch. Und dagegen will ich etwas tun. Statt weiter auf Durchzug zu schalten, will ich den Betroffenen in meinem Umfeld meine Meinung zum ewigen „Das lohnt sich doch nicht mehr“-Gejammere sagen.

Sparen bis zum Umfallen

Wenn alle Finanzentscheidungen nur den Status quo und damit die Fiktion aufrechterhalten sollen, das Leben könne ewig so weitergehen, ist mir zum Weinen zumute. Weinen über die vielen „Das lohnt sich doch nicht mehr“-Momente, über die unzähligen verblassten „Das mache ich später“-Vorhaben, über die massenhaften „Ich würde ja, aber“-Gelegenheiten.

Meint ihr, liebe Eltern und Großeltern, wirklich, dass wir nichts lieber hätten, als eure Häuser, Goldvorräte, Spareinlagen und Aktiendepots? Meint ihr, dafür lohne es sich, so unnötig eingeschränkt zu leben? Oder sichert euch das Erbe die Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Gemeinschaft in der Familie der potenziell Begünstigten? Ich bin doch nicht käuflich!

Wenn ich mal ganz offen sein darf: Mir wäre ein anderes Erbe lieber. Ich wünsche mir, Erinnerungen an Menschen zu erben, die ihr Leben wirklich gelebt haben — es ist schließlich das einzige, das wir haben. Ich möchte von euch statt Angst und Schuldgefühlen Zufriedenheit und Freude vorgelebt bekommen — ihr wisst nicht, wie wertvoll das sein kann. Ich möchte, dass eure Weisheiten — und nicht die Kapitalanlagen — die Zeiten überdauern. Denn davon profitieren wir Erben dauerhaft. Ich möchte eure Herzenswünsche verwirklicht sehen. Also, liebe Omis und Opis, nehmt all euer Geld und verwirklicht die Träume, für die ihr früher so gebrannt habt. Nutzt die Zeit — sie ist so viel begrenzter als das bisschen Geld. Und um die Zeit sinnvoll zu verbringen, lohnt sich sicher auch die Anschaffung einer neuen Brille. Lasst euch diese Lebensqualität nicht von euren Ängsten rauben.

Kathrin Ernsting (32) hat früh gelernt mit wenig auszukommen und später auch alles einzusetzen. Ihr aktuelles Sparguthaben reicht für den nächsten Kurzurlaub, die Weihnachtsgeschenke und eine neue Waschmaschine.

Dieser Artikel ist ein Bonustrack der gedruckten SHIFT-Ausgabe Vol. 5.

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